«Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt.»
29 April 2010 / Berlin
Männliche Identitäten. Wie aus Menschen Männer werden.
Pinar Selek: Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten
Wie wird man zum Mann? Hierzu braucht zum Beispiel der türkische Mann fünf einschneidende Erlebnisse: 1. Beschneidung, 2. Militärdienst, 3. Arbeit finden, 4. Heirat und 5. Vater (eines Sohnes) werden. Der Militärdienst ist ein besonders anschauliches Beispiel: eine Prüfung, die nur bestanden ist, wenn der Mann »gebrochen« wurde und seinen Platz in der Autoritätshierarchie eingenommen hat.
Über Interviews mit 58 Männern, die ihren Militärdienst, ihre Sozialisation und ihre Empfindungen während dieser Zeit schildern, beschreibt die Soziologin Pinar Selek, wie junge Männer in der Türkei die Zeit ihrer Identitätsfindung erleben. Die Gespräche zeigen einen Querschnitt durch die ganze Gesellschaft der Türkei. Unter den Männern sind unter anderem auch Kurden und Armenier.
Pinar Selek, ein bekanntes Gesicht der feministischen Bewegung in der Türkei, ist Soziologin und bekannt dafür, Tabuthemen anzupacken. Bekannt geworden ist Pinar Selek mit Recherchen und Arbeiten zu diskriminierten Gruppen wie Transsexuellen, Straßenkindern und SexarbeiterInnen. 1998 geriet sie unter Terrorverdacht und kämpft seit dieser Zeit gegen die Vorwürfe an, obwohl sie zweimal freigesprochen wurde. Heute lebt sie Berlin und schreibt mit einem Stipendium des PEN International an ihrem ersten Roman. Pinar Selek hat für «Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt» vom türkischen PEN-Zentrum den diesjährigen Duygu- Asena-Preis bekommen.
Seit März 2010 droht der türkischen Schriftstellerin, Soziologin und Menschenrechtsaktivistin die Höchststrafe in der Türkei.
Eine kurze Chronik der Ereignisse: 1998 wird Pinar Selek beschuldigt, an einem Bombenanschlag auf dem Ägyptischen Basar in Istanbul beteiligt gewesen zu sein. Sie sitzt zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft und wird schwer gefoltert. Schließlich erklärt der Hauptbelastungszeuge, seine Aussage, auf deren Grundlage Pinar Selek festgenommen worden war, sei durch Folter erzwungen gewesen. Zugleich können mehrere Gutachter zweifelsfrei nachweisen, dass die Explosion auf dem Basar nicht durch eine Bombe, sondern vermutlich durch eine defekte Gasleitung verursacht war. Pinar Selek, die für die Dauer des Verfahrens auf freiem Fuß war, wird nach elf Jahren endlich frei gesprochen.
Im Frühjahr 2009 hebt die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts Ankara diesen Freispruch auf. Dagegen legt der Oberstaatsanwalt beim Großen Strafsenat desselben Gerichtes Widerspruch ein, da es für die Beteiligung der Angeklagten an dem Vorfall keinerlei Beweise gebe. Diesen Widerspruch hat der Große Strafsenat im März 2010 zurückgewiesen und bestätigt den Entscheid der 9. Strafkammer, den Freispruch aufzuheben. Damit droht Pinar Selek eine Verurteilung nach § 125 des Türkischen Strafgesetzbuches (sinngemäß: Staatsgefährdung bzw. Landesverrat) zur Höchststrafe. In der Türkei bedeutet das 36 Jahre Einzelhaft mit totalem Kontaktverbot.