Günter Wallraff über Pınar Selek und eine andere Türkei
Die 12. Kammer für Schwere Straftaten in Istanbul hat im Prozess gegen die Soziologin Pınar Selek - trotz der Forderung des Türkischen Kassationsgerichtshofs nach lebenlanger Haft unter erschwerten Bedingungen - ihr vorab bereits zweimal gefälltes Freispruchsurteil bekräftigt. Am bisher letzten Verhandlungstag, dem 9. Februar 2011, wenige Stunden nach der Urteilsverkündung fragten wir den wie viele andere zu Pınars Unterstützung angereisten Journalisten und Autoren Günter Wallraff nach seinen Eindrücken.
Das Gespräch führte Corinna Trogisch.
Pınar wurde tatsächlich freigesprochen. Günter, wie wirkt dieses heutige Ergebnis des Prozesses auf dich?
Es ist überraschend - ein Tag der Freude. Und ich muss gestehen, ich hätte damit nicht gerechnet. Ich glaubte, das oberste Gericht würde hier den langen Arm zum Durchgreifen haben. Aber - es zeigt sich, dass es auch schon unabhängige türkische Gerichte gibt. Durch ein solches wurde nun zum dritten Mal der Freispruch bekräftigt.
Welche Bedeutung misst du dem ganzen Prozess und dem jetzigen Ergebnis zu?
Also, erstmal ist es ein ganz entscheidender Durchbruch. Mir kam der Gedanke an einen möglichen Freispruch heute übrigens auch schon, ich wollte mich nur nicht so weit vorwagen, ihn auszusprechen. Einer der Anwälte Pınars hat dies hingegen ins Gespräch gebracht und übrigens auch den Vergleich mit dem Fall Dreyfus angestellt. Das heutige Urteil hat für die Türkei eine enorm groβe Bedeutung, weil Pınar für etwas steht, was bisher unterdrückt war, was kriminalisiert oder sogar in Terrorismusverdacht gebracht wurde. Und dieses wiederholte Freispruchsurteil birgt - wie es auch weitergehen mag -, die Chance, dass sich solche Positionen weiter durchsetzen und dann auch andere, die vielleicht bisher ängstlich waren und Bedenken hatten, für Dinge wie Minderheitenrechte, Frauenrechte einzutreten, anfangen diese offensiv zu vertreten.
Um an Pınars letztes Buch (dt. Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt. Orlanda Verlag 2010) anzuknüpfen: Auch was die sogenannten Trainingsräume der Gesellschaft betrifft, so müssen diese kritisch hinterfragt werden. V.a. die Armee: was da Menschen angetan wird, wie da Menschen zerbrochen werden. Durch Methoden die sicher auch anderswo, in vielen Armeen der Welt vorkommen... Aber in der Türkei ist das zum Selbstzweck geworden. Ich selbst habe auch als Kriegsdienstverweigerer 10 Monate in der Bundeswehr der Nachkriegszeit verbracht - einiges was ich in Pınars letztem Buch gelesen habe, war mir also nicht ganz fremd. Aber hier passiert derlei hoch 10 - und ohne Gegenwehr. Auch ich kam damals letztendlich in eine geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts, und wurde schlieβlich mit dem Ehrentitel „abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich, Tauglichkeitsgrad VI‟ wieder in die Freiheit entlassen. Daher hatte ich sofort einen persönlichen Bezug zu vielen Dingen, über die Pınar da schreibt. Aber auch was sie über Homosexuelle, Transsexuelle schreibt, ist von immenser Bedeutung. Dass sie das kurdische Problem angesprochen hat, und zwar dass sie dieses auch aus einer Perspektive der Gewaltfreiheit anging, und dann selbst zur Terroristin gemacht werden sollte, durch Folter, durch Schuldzuweisungen die später zurückgenommen werden mussten, das ist ungeheuerlich. Man muss mal überlegen, fast 13 Jahre lang ist das aufrechterhalten worden! Man kann jetzt eigentlich nur fordern, dass diejenigen die diesen Prozess, dieses Komplott zustande gebracht haben, vor Gericht kommen. Diejenigen, die das wider besseren Wissens betrieben haben, haben sich der Beihilfe zur Folter, des Prozessbetrugs schuldig gemacht. Und eb