Freitag 11. Februar 2011
Seit zwölf Jahren steht die türkische Soziologin Pinar Selek im Verdacht, eine Attentäterin zu sein – ein absurder Vorwurf in einem absurden Rechtssystem. Jetzt startet in Istanbul der dritte Prozess gegen die 38-jährige, die Zuflucht in Deutschland gefunden hat. Doch sie ist nur eine von vielen, die der Willkür der türkischen Justiz ausgesetzt sind: Aus Istanbul berichtet Dieter Sauter.
Es ist ein merkwürdiger Prozess, den die türkische Justiz diese Woche beginnt: Die Angeklagte erscheint nicht vor Gericht, dennoch erregt das Verfahren auch international Aufsehen. Die Entscheidung des Gerichts wird für die 38-jährige Soziologin Pinar Selek keine persönlichen Auswirkungen haben – die Soziologin lebt seit einigen Jahren in Deutschland, zurzeit als Stipendiatin des PEN-Clubs. Trotzdem: EU-VertreterInnen halten Pressekonferenzen zu diesem Prozess ab, fast 500 Autorinnen und Politiker in Deutschland unterzeichneten eine Protestnote, der britische «Observer» druckte Solidaritätserklärungen, politische Stiftungen in Europa befassen sich mit Selek. Wieso?
Geschlagen und gefoltert
Der Fall Selek ist ein Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn man in die Mühlen der türkischen Justiz gerät. Im Juli 1998 sterben in Istanbul bei einer Explosion im Ägyptischen Basar sieben Menschen. Zwei Tage später wird Selek verhaftet, aber nicht in Zusammenhang mit der Explosion. Die Polizei will von ihr wissen, mit welchen Mitgliedern der kurdischen Arbeiterpartei PKK sie für ihre Untersuchung zum Kurdenthema gesprochen hat. Sie schweigt und wird gefoltert; zweimal kugelt man ihr den Arm aus. Sie schweigt weiter – und wird aus heiterem Himmel angeklagt, am «Attentat im Ägyptischen Basar» beteiligt gewesen zu sein. Ein Komplize habe sie verpfiffen.
Der angebliche Komplize zieht kurz darauf seine Aussage zurück – er sei unter Folter dazu gezwungen worden. Mehrere Gerichtsgutachten kommen außerdem zu dem Schluss, dass eine Gasflasche die Explosion verursacht hat. Trotzdem sitzt Selek zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Im Dezember 2000 wird sie nach einem Freispruch aus der Haft entlassen, beginnt wieder zu arbeiten, untersucht den «Antimilitarismus» am Bosporus – und wird 2004 erneut als «Bombenlegerin» im Ägyptischen Basar angeklagt. 2006 folgt der zweite Freispruch. Auch ein neuer Gutachter erklärt, dass «die Ursache der Explosion nicht mit Gewissheit festgestellt werden» konnte.
Der Oberste Gerichtshof aber kassiert den Freispruch. Wieder wird verhandelt, wieder wird Selek freigesprochen, doch der Oberste Gerichtshof bleibt hart: Erneut fordert er «lebenslänglich» für die Soziologin. Neue Beweise gibt es nicht, das unter der Folter erpresste Geständnis des angeblichen Komplizen gilt aber immer noch als schwerwiegend. Auch wenn Pinar Selek inzwischen in Deutschland lebt: Seit über zwölf Jahren wird sie von der Justiz verfolgt; sie musste ihre Heimat verlassen, und den Verdacht, eine Attentäterin zu sein, wird sie wohl nicht mehr los.
60000 Häftlinge ohne Gerichtsurteil
Die europäische Aufregung im Fall Pinar Selek ist für EU-PolitikerInnen vor all