Pınar Selek
Natur und Freiheit


 

In der Funktionsweise des menschlichen Verstandes, seiner Sichtweise über die ihn umgebende und ihn schaffende Umgebung, seiner Methode zur Umwandlung von Daten in Abstraktionen, Theorien, Folgerungen oder Gesetzmäßigkeiten spiegelt sich die Ebene der Beziehung des Menschen mit dem ihn umgebenden Sein wider. Zwischen der Interpretation der Außenwelt und der Art mit ihr in Beziehung zu treten besteht ein enger Zusammenhang.

In der hintergründigen Mentalität der heutigen Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen zwischen belebten und nicht belebten Wesen verbirgt sich die patriarchale Ideologie. Diese Ideologie, vermengt sich mit den anderen Klassen- und Kulturideologien, wird von ihnen genährt und produziert die Mentalität sämtlicher hegemonialen Ideologien.

Eine der grundlegendsten Eigenschaften der patriarchalen Ideologie, ist die Dualität, mit der sie alle Wesen kategorisiert. Die über sämtliche Wesen erhobene Herrschaft des Menschen stützt sich auf diese dualistische Wahrnehmung.

Die patriarchale Ideologie und ihre dualistische Logik entstanden in einer langen Geschichte von Wechselseitigkeiten und spiegelten sich in aufeinander folgenden Epochen in Theorien, Methoden und Rhetorik in verschiedener Weise wider. Der Glaube, dass die Welt für den Menschen erschaffen wurde und sämtliche Wesen dem Menschen -stellvertretend für den Menschen, dem Mann- dienen sollen, dass die Engel eine Stufe unter dem Menschen stehen, dass sämtliches Leben, die Welt, der Himmel und die Hölle für den Menschen geformt wurden, wurde mit Ritualen wie dem Massenmord an Opfertieren während Opferfesten geheiligt. Während die patriarchale Ideologie sich modernisiert, wird diese Heiligkeit im Namen der Wissenschaft regeneriert.

Obwohl die Newtonsche Physik technologisch längst überholt ist, besetzt sie immer noch die Position, durch die sie die dualistische patriarchale Ideologie als wissenschaftliches Dogma jenseits von Diskussionen aufrechterhält, die Methoden der sozialen Wissenschaften und die Logik vieler Forschungsarbeiten beeinflusst, bzw. bestimmt. In der Newtonschen Physik wird die Realität in all ihren Facetten in Einzelelemente aufgeteilt und definiert. Demnach stützen sich die Gesetzmäßigkeiten der Natur auf feste Objekte und sind als absolut determinant zu verstehen. Damit liefert die Newtonsche Physik der hierarchischen und dualistischen Sichtweise eine moderne Grundlage. Sie schafft also eine vorhersehbare, nach mechanischen Prinzipien funktionierende „andere" Welt. Was vorhersehbar und mechanisch ist, ist Objekt. Wer vorhersehen kann wird damit also zum Subjekt. Anhand dieses Paradigmas erschafft der Mensch eine Natur, die er verstehen kann und zwängt alle Wesen in seine Kategorien.

Diese Auffassung wurde mit der dualistischen Philosophie durch Descartes in die Moderne übertragen und gestärkt. Die Kartesianische Philosophie fußt auf der vorgegebenen Unterscheidung zwischen Seele und Materie. Dies sind also zwei verschiedene Substanzen, die außerdem in einer hierarchischen Beziehung stehen. Der Körper ist primitiv, wohingegen die Seele transzendent ist. Die Kultur ist der Natur also absolut überlegen. Deswegen ist „der Mensch Führer und Inhaber der Natur" (Descartes). Diese auch nach Descartes hegemoniale Auffassung, rekonstruiert die seit tausenden von Jahren theologisch gespeiste anthropozentrische Philosophie und liefert somit die Stütze für die Ausbeutung durch den Westen und für moderne Herrschaftsformen.

Die Hypothese, der Verstand sei unabhängig vom Körper und stelle einen separaten Existenzbereich dar, wird weiterhin allgemein geteilt. Daher ist der Glauben an eine Objektivität des Menschen, an seine Fähigkeit universelle Gesetze zu formulieren und mit diesen in die Welt einzugreifen zu können, um sie in den Dienst des universellen Verstands zu stellen, weiterhin hegemonial.

Die anthropozentrische Sichtweise hat dem Menschen die „Mission" Herr der Natur zu werden, bzw. die physische Realität auszubeuten auferlegt. Der Mann, Träger dieser Mission, hat die Natur als Solche als wertlos erklärt und sie „rational" verplant, unterworfen und in eine dem Mann-Menschen dienende Ordnung überführt.

Marylin French weist ebenfalls auf „das Patriarchat, das sich als eine Ideologie, auf die Überlegenheit der Männer gegenüber Tieren, stützt". Die meisten feministischen Theoretikerinnen bewerten die Unterwerfung der Frauen und der Natur als eine ganzheitliche Entwicklung. Denn der Körper der Frau wurde mit der gleichen Mentalität eingenommen, genutzt, instrumentalisiert, zu Eigentum und durch den Kapitalismus zur Ware erklärt.

Die männlich-anthropozentrische Weltanschauung wurde nicht nur im Zusammenhang mit dem Körper der Frau, sondern auch auf degradierten Formen der Männlichkeit aufgebaut. Im patriarchalen System, wird jedes dominierte Wesen mit der Natur gleichgesetzt. Der Natur werden zusammen mit allen unterdrückten Wesen weibliche Eigenschaften zugesprochen. Die hegemoniale Systematik der Weltordnung funktioniert noch immer in Anlehnung an die Mentalität, die die rationale Korrektur von jeglicher Unordnung, Marginalität und Andersartigkeit vorsieht.

Die Herrschaft des Westens über den Osten, die Versklavung der Schwarzen, die Konzipierung verschiedener Kulturen als Primitiv und damit begründete Eingriffe, die Bezwingung der Verrücktheit, die Ausgrenzung der Kinder von allen Entscheidungsmechanismen und die Instrumentalisierung der Armen als Dienstkräfte nähren sich von dieser Mentalität.

Aber gleichzeitig geht der Widerstand weiter. Der Kampf der Frauen, Schwarzen, Kinder, Jugendlichen, Gay und Lesben, Armen, Bevölkerungen des Ostens und des Südens und verschiedener Sub-Kulturen für Freiheit, erschüttert das hegemoniale Paradigma unentwegt. Die Diskussionen innerhalb der Wissenschaften und der Philosophie liefern den freiheitlicheren Lebensformen, die durch diese Kämpfe geformt werden, einen theoretischen Unterbau.

Wie allgemein bekannt ist, hat Einsteins generelle und spezielle Relativitätstheorie und die Quantums-Physik die Gültigkeit des Newtonschen Paradigmas schon längst überholt. Die Relativitätstheorie hat dargelegt, dass die gesamte Realität von einer Raum-Zeit Kontinuität abhängt, in der keine Einheit unabhängig von ihrer Beziehung zu den anderen Einheiten definiert werden kann. Die Quantums-Physik ihrerseits hat die inkonstanten und kontextuellen Eigenschaften der subatomaren Handlungen unter Einwirkung einer Beobachtung offenbart. Demnach können sämtliche Wesen, wie Elektronen, je nach Kontext und beobachtendem Subjekt verschiedene Eigenschaften entfalten.

In der klassischen Physik, in der Raum und Zeit konstant sind, herrscht die Annahme, Versuche ergäben exakte Resultate. Diese Totalität erlaubt die Heiligung jeglicher Sichtweise. Da aber Raum und Zeit in der Relativitätstheorie und der Quantums-Physik als variabel angesehen wird, ist die Exaktheit der Resultate ebenfalls variabel. Diese Sichtweise verlangt, entgegen den festen Objekten und klarem Determinismus der klassischen Auffassung, nach einem kontextuellen Netzwerk, das in Abhängigkeit von der Umgebung jedes einzelnen Wesens von seiner eigenen Umgebung und situativen Relativität der/des Beobachtenden steht. In diesem Fall lösen sich die ehemaligen Dualitäten auf. Die neue Ansicht des Kosmos ergibt sich aus der holistischen und kontextuellen Herangehensweise an die Realität. Diese Herangehensweise, welche Bestandteil der feministischen Theorie und Methodik ist, lässt eine Definition des Menschen außerhalb der Natur und die Konstruktion seiner Ansicht der Natur, unabhängig von seiner existenziellen und situativen Lage, nicht zu. Demnach ist die Natur, ebenso wenig wie alle Wesen, kein Objekt und unabhängig vom Willen des Menschen. Der Mensch kann die Natur nicht nach eigenem Willen verformen und beugen.

Spinozas Herangehensweise gegenüber Descartes Philosophie, stärkt die feministische Methodik noch, die in der Beziehung zur Natur ausgeführt wurde. Nach Spinoza, kann Seele und Materie nicht voneinander getrennt ergründet werden, „denn Handlungen und Wechselwirkungen unseres Körpers gehen Hand und Hand mit Handlungen und Wechselwirkungen unserer Seele". Daher ersetzt er Transzendenz mit Inhärenz. Die Idee ist dem Gefühl oder dem Körper nicht überlegen, und die Vernunft nicht der Natur. Ähnlich ist die Beziehung zwischen Organischem und Unorganischem. Die Vernunft kann nicht als Herrscher der Natur gesehen werden, denn Vernunft und Natur sind nicht antagonistisch, sondern ineinander begriffen. So nimmt die Kohärenz des Gefühls, des Körpers und der Idee die Stelle der durch den Menschen definierten und nach ihm geformten Natur ein. Diese Sichtweise löst auch die vermeintliche Mission des Menschen, die Natur weiter zu entwickeln, auf.

Falls also die Natur sämtliches Sein in sich trägt, können wir unsere Freiheit nicht unabhängig von unserer Natur, den der Natur innewohnenden Wesen, unseren Gefühlen, unserem Bewusstsein und unserem Körper erlangen. Freiheit ist ein ganzheitliches Projekt und kann nur mit der Teilnahme alles Seins verwirklicht werden. An Stelle festgefahrenen antagonistischen Identitäten müssen also Pluralität und Vielfältigkeit treten, womit eine neue gekreuzte, variable und nicht ego-zentrische Definition von Identität, die unterschiedliche Elemente in sich vereinigt und kreative Wechselwirkungen ermöglicht, erschaffen werden kann.

Mit diesen Diskussionen lässt sich die Mission des Mann-Menschen theoretisch aufheben. Aber was wird aus dem seit Jahrtausenden institutionalisierten Herrschaftssystem? Ist es nicht ein wichtiges Hindernis um Erkenntnisse aus Physik und Philosophie in das soziale Feld zu übertragen? Können alte Angewohnheiten einfach abgelegt werden? Kann der Mensch seine Grenzen akzeptieren und seine Existenz grundlegend ändern? Kann er die Herrschaftsbeziehung zur Natur aufbrechen und erneut in ihr aufgehen? Natürlich, falls Freiheit der Herrschaft vorgezogen wird.

So werden also in der Befreiung des Menschen mit der Natur ethische Entscheidungen und Engagement eine wichtige Rolle spielen. Aber diese Wahl und das Engagement den Männern zu überlassen wäre sehr riskant. Der Mann kann in ökologischen Bewegungen teilnehmen und sich für Tierrechte einsetzen, aber diesen Kampf mit einer Reflexion seiner eigenen Existenz zu führen, dürfte eher schwierig sein, da die gesellschaftlichen Gender-Rollen weiter bestehen und das ganze System reproduzieren. Die Frau, die selbst in dominanten Rollen Unterdrückung erfährt, neigt eher zur Reflexion ihrer Existenz. Falls sie ihre Reflexion im Einklang und verquickt mit dem Kampf um die Freiheit aller Unterdrückten führen kann, kann sie die Beziehung zwischen den Wesen grundsätzlich erschüttern...

Nicht nur die Natur, Frauen und die Unterdrückten, sondern das ganze Leben benötigt diese Erschütterung.


PINAR SELEK

 

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Mahkeme Süreci Court Process