Es ist früher Morgen. Wir, eine knapp 50-köpfige Gruppe  internationaler UnterstützerInnen treffen uns vor dem neuen Caglayan  Gericht in Istanbul. Das Gebäude ist ein Palast aus Marmor: kalt,  bombastisch und erdrückend. Eine in Stein gemeißelte Demonstration der  Macht. Zur Pressekonferenz erscheinen ca. 300 DemonstrantInnen,  SchriftstellerInnen, LGBT-VertreterInnen, Vertreter von  Oppositionsparteien, StudentInnen, etc. Unter den etwa 50  internationalen ProzessbeobachterInnen befinden sich 37 Delegierte aus  Frankreich, 7 aus Deutschland und 5 aus Italien. Nachdem wir die  umfangreichen Sicherheitskontrollen hinter uns gebracht haben, erfahren  wir, dass uns ein kleiner Saal mit nur 20 Sitzplätzen zugeteilt wird. Es  wird lange verhandelt. Wir warten. Eine Stunde später werden wir dann  in einen mittelgroßen Saal mit ca. 70 Plätzen geführt. Die Verteidigung  von Pinar Selek, die den Prozess von Straßburg aus verfolgt, wird von  ca. 50 AnwältInnen übernommen. Sie werden zu Beginn des Prozesses  einzeln aufgerufen. Allein diese Zahl lässt vermuten, dass der Prozess  eine erhebliche politische Tragweite hat. Die Verteidigung plädiert auf  Verfahrensfehler: es könne nicht sein, dass ein Gericht ein bestätigtes  Urteil immer wieder aufhebe. Die Angeklagte sei in der Vergangenheit   dreimal freigesprochen worden und an der Beweislage habe sich nichts  geändert.
Im Saal selbst sind die Verhältnisse für die ProzessbeobachterInnen  erdrückend: es ist zu warm, zu eng, die Luft ist stickig. Die Richter  murmeln, man hört sie kaum. Sogar die AnwältInnen die ganz vorne sitzen  verstehen kaum, was gesprochen wird. Es herrscht eine konspirative  Atmosphäre. Das Verfahren wird immer wieder durch unnötige Pausen  unterbrochen. Wir werden ständig von einem Raum zum anderen geschoben  und fühlen uns wie Schachfiguren. Jedes mal müssen wir die demütigende  Prozedur einer erneuten Sicherheitskontrolle über uns ergehen lassen.  Insgesamt kann dieser Umgang nicht anders als schikanös und als erneute  Machtdemonstration bezeichnet werden. So zieht sich die Verhandlung hin  bis in den späten Nachmittag. Nach einem immer wieder durch unsinnige  Pausen unterbrochenen vergeblichen Kampf der Verteidigung kippt die  Situation. Ohne jegliche Begründung folgt der Richter der  Staatsanwaltschaft und plädiert für eine lebenslange Haftstrafe.  Unmittelbar darauf folgt eine einstündige Pause. Es gibt keine  Möglichkeit zu reagieren oder Fragen zu stellen. Nach der Pause herrscht  Chaos: zunächst heißt es, nur JournalistInnen und AnwältInnen dürften  an der Urteilverkündigung teilnehmen, kurze Zeit darauf heißt es, dass  wir, die internationalen ProzessbeobachterInnen jetzt doch  anwesend  sein dürfen. Wir warten erneut endlos lang vor dem Gerichtssaal bis uns  letztendlich mitgeteilt wird, dass der Beschluss in Form eines Berichtes  ausgehändigt werde.
Physisch erschöpft und fassungslos verlassen wir das Gebäude. Was ist passiert? Es bleiben tausend Fragen offen.
Günter Wallraff, als Vertreter des PEN vor Ort, spricht von "einem  Schauprozess" und kritisiert die Entscheidung "als Willkürurteil erster  Güte". Er fügt hinzu, "wenn solche Leute wie Pinar Selek in der Türkei  frei agieren könnten, würde sich das Land verändern. Das will man  verhindern". "Dass irgendeine politische Ebene dazwischenfunkt und von  Rechtsstaat keine Rede sein kann, das ist in diesem Verfahren mit Händen  zu greifen".
Am Abend treffen wir uns im feministischen Frauenzentrum Amargi. Eine  federführende Rechtsanwältin der Verteidigung spricht von einem  "Gerichts-Massaker". Sie sagt, es sei so als würde ein Gericht ein  Ehepaar 3 mal scheiden und das Scheidungsurteil jedes mal ohne weitere  Begründung als ungültig erklären! Diese Richter würden nicht im Sinne  ihrem eigenen Rechtssystems handeln. Es sei ein politischer Prozess  gewesen und somit auch eine politische Entscheidung. "Eigentlich sollten  wir ein Rechtsstaat sein!", sagt sie verzweifelt. Internationale  Solidarität sei nun umso wichtiger, denn ohne diesen öffentlichen Druck  von außen „würden sie machen was sie wollen.“
Nach Ansicht von Prof. Dr. Fanny Reisin, Vertreterin der ILMR  (Internationalen Liga der Menschenrechte) beinhaltet "dieser Prozess  mehr als die eigentliche Anklage. Ein Gericht, das sein eigenes Urteil  in Frage stellt, ist verfassungswidrig und das geht gegen die  Menschenrechte, denn es ist ein Menschenrecht, sich auf eine unabhängige  Justiz die rechtstaatlich handelt verlassen zu können".
Der Reporter Boris Kalnoky drückt es wie folgt aus: „Dem vorsitzenden  Richter Vedat Yilmazabdurrahmanoglu, der Pinar schon mehrmals  freigesprochen hat, scheinen dieses Mal die Hände gebunden zu sein. Er  wirkt eingefallen, wie ein Geist. Er scheint zu verstehen, dass das  Opfer dieser Willkürjustiz nicht nur Pinar Selek ist, sondern das, wofür  er selbst steht: der türkische Rechtsstaat. Das Recht".
Und was sagt die Angeklagte in Strasbourg? „Als ich das Urteil hörte,  ging es mir nicht gut. Es fühlte sich an als wäre eine sehr nahe  stehende Person gestorben. Ich wurde nämlich noch nie verurteilt,  sondern meine Freisprüche wurden immer wieder aufgehoben. An mir  soll  ein Exempel statuiert werden. Damit soll jede offene Systemkritik  unmöglich gemacht werden. Gestern aber habe ich Hoffnung geschöpft, es  kamen sehr viele und junge Studenten aus der ganzen Türkei nach Istanbul  und sagten laut "wir sind alle Pinar Selek“. Ich liebe Istanbul und ich  werde alles tun um wieder zurück zu kehren. Der Kampf geht weiter!"
Dr. phil. Ingeborg Kraus
Prozessbeobachterin im Auftrag von TERRE DES FEMMES
Karlsruhe, 27.01.2013
http://frauenrechte.de/online/index.php/aktiv-werden/43-eilaktionen/1120-pinar-selek-kafkaesker-prozess-unter-den-augen-der-weltoeffentlichkeit.html